Besuch bei Horst Hartung 2014

HORST  HARTUNG  –  EIN  LEBEN  FÜR  DEN  BOOTSBAU

 

Die „Freunde historischer Faltboote e. V.“ besuchten am 5. Oktober 2014 den 87-jährigen Horst Hartung, Jahrgang 1927. Er ist einer der letzten deutschen (Falt)Bootbauer, dessen Arbeiten Maßstäbe im Bootsbau gesetzt haben. Horst Hartung ist geistig und körperlich jung geblieben. Zwar hört er schon etwas schwer, und Gleichgewichtsstörungen lassen ihn manchmal zum Stock greifen. Doch seine Energie ist ungebrochen.

Horst Hartung im Gespräch mit dem Verein

 

Die Anfänge

 

Mit 14 Jahren, 1941, begann Horst Hartung seine Lehre als Modelltischler. Er erlernte nicht nur den Bau von Holz-Modellen für das Gießereiwesen, sondern auch wichtige Grundlagen der Metall- und Holzbearbeitung; wie anspruchsvoll die Arbeit war, sieht man daran, dass der Lehrling u. a. Zylinder für Lokomotiven entwerfen musste.

Den Jugendlichen führten die Bücher Herbert Rittlingers zum Kanusport. Zusätzlich zum knappen Lohn hatte er zur Konfirmation etwas Geld bekommen. Von diesem Kapital kaufte er sich mit Lehrbeginn einen Einer, ein „Sharpie“ (ein Holzboot mit geradem Boden). Damals saßen in Halle Dutzende Bootshäuser an der Saale; zur Kapitulation, als die Boote gezählt wurden, registrierte man allein im Südteil von Halle 4500 (Holz)Boote! In einem der Bootshäuser fand sich auch ein Platz für sein Boot. Prompt legte der Jugendliche zusammen mit einem Freund im Hochwasser der Saale seine erste Kenterung hin. Jahrzehnte später lächelt er: „Kentern habe ich oft gemacht, das war meine Spezialstrecke!“

Durch seine Schwester, die schon während des Krieges Slalom fuhr, kam Horst Hartung zum Wildwasser und zum „Verein für Kanusport Halle von 1909“ (VKH 09), dessen Vorsitzender damals Wilhelm Engelbrecht war. 1944 wurde der junge Modelltischler mit siebzehn (!) noch zu einer Spezialeinheit der Marine gezogen (volljährig wurde man damals mit 21). Dort hielt er sich an einen Rat, den man ihm mitgegeben hatte: „Nimm jeden Lehrgang mit, den du kriegen kannst!“ Für die geforderte Qualifikation als Schiffszimmermann war noch gegen Kriegsende sogar ein Tauchlehrgang nötig, den er auch ablegte. Das erworbene Wissen sollte sich auszahlen.

Frisch aus der Gefangenschaft entlassen, paddelte der Zwanzigjährige im Sommer 1947 zusammen mit einem gleichaltrigen Freund, der im Krieg sein Bein verloren hatte, eine erste große Tour. In Lübz startend, fuhren sie über die Mecklenburger Seen, Waren und Rechlin (wo sie mit knapper Not der sowjetischen Wachmannschaft des Flugplatzes entkamen), dann die Havel abwärts bis Magdeburg. Außerdem ging Horst Hartung noch im gleichen Jahr aufs Wildwasser, zunächst mit einem „zusammengebastelten“, aber immerhin einem „richtigen“ Faltboot. Sein Wissen als Schiffszimmermann ließ ihn aber noch 1947/48 mit dem Bau von Faltbooten für Slalomrennen anfangen. Dabei richtete er sich nicht nach vorgegebenen Maßen, sondern nach eigenem Ermessen, wie Slalom gefahren werden muss. Und schon sein erstes Boot war gelungen! Auf der Zwickauer Wildwasserstrecke (siehe unten) fuhr er es schon vor 1950 im Wettkampf – und trug bei der Meisterschaft den Sieg davon. Daraufhin wurde er gefragt, ob er solche Boote in größerer Stückzahl bauen könne. „Als Modell nicht“, war die Antwort, doch schließlich sagte er zu.

 

Halle – Saale Faltbootbau

 

Mit dem Bau des Bootes erhielt Horst Hartung, 23-jährig, den Gewerbeschein („Es war eigentlich nicht üblich, für solche Projekte ein Gewerbe zu bekommen“). Er galt ab dem 1. 1. 1950. Die Belegschaft von „Halle-Saale Faltbootbau“ (HSF) durfte dabei aber nicht mehr als 10 Beschäftigte umfassen (Privatbetriebe wurden knapp gehalten). In den Folgejahren legte die Firma HSF die Grundlage dafür, dass die DDR in den 50er und 60er Jahren des 20. Jh. führend in Wildwasser und Kanuslalom war.

 

In der Not der Nachkriegszeit fehlte es an allem. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, unter welchen Bedingungen wir damals gearbeitet haben!“ Es gab z. B. nirgends Messingschrauben. Horst Hartung ließ sich aus Rollen von Kupferdraht in einer Nagelfabrik in Naumburg Kupfernägel schlagen. Immerhin hatte er bei seinen ersten Booten keinen Ärger mit Nieten, weil in Halle bis Kriegsende die Siebel Flugzeugwerke standen. (Noch heute hat Horst Hartung Nieten von dort in der Werkstatt.) Das Holz kaufte er, nachdem er die Gewerbegenehmigung besaß, von einem privaten Holzhändler und nutzte die Vorräte einer Tischlerwerkstatt, deren Besitzer in den Westen geflohen war. Die Esche wurde auf einem Pferdefuhrwerk antransportiert, das er selbst entladen musste. Für den Zuschnitt stand Horst Hartung von morgens bis abends an der Kreissäge. „Gehörschutz? Gab‘s nicht. Man hörte doch, dass sie sich dreht.“ Einmal bekam er einen Stamm geliefert, der so voll Granatsplitter steckte, dass er, um sein Sägeblatt zu erhalten, aufs Verarbeiten verzichten musste. Wie sich herausstellte, stammte die Esche aus dem Wörlitzer Park, in dem stark gekämpft worden war, und die Stahlsplitter hatten das Holz förmlich durchsiebt. (Bezahlt werden musste der Baum trotzdem.)

 

Seine erste Bootshaut war eine Improvisation: In seiner Zeit bei der Kriegsmarine hatte er gummiertes Gewebe kennengelernt. Als Horst Hartung 1948 hörte, dass es in Borsdorf bei Leipzig eine Beschichtungsfabrik für Linoleum gäbe, fuhr er (schon die Fahrt war ein längeres Abenteuer) mit einer Rolle irgendwo erhandeltem Segeltuch nach Borsdorf und verhandelte mit dem Direktor, das Tuch einseitig mit blauem PVC zu beschichten. Stolz schickte er das schwere Stück auf einem Pferdefuhrwerk nach Hause – und dabei wurde ihm die Rolle geklaut! Also musste er wieder nach Borsdorf und den Direktor überreden. Diesmal holte er die Rolle persönlich ab und nahm sie im Personenzug mit (was bei den selten fahrenden, überfüllten Nachkriegszügen eine eigene Leistung gewesen sein dürfte). „Es war eine böse Zeit!“

 

Einer seiner Bekannten war Werkzeugmacher in der Schuhfabrik Weißenfels. Er baute für Horst Hartung Werkzeuge, z. B. fürs Stanzen. Ein anderer arbeitete in einer Gießerei, die Aluminiumteile goss. Also entwickelte Horst Hartung schnell einen Beschlag, der dort gegossen werden konnte. Das im SL 58 verwendete Blech wurde später nicht mehr verbaut, da Horst Hartung nach 1958 kein Blech mehr bekam. „Es gab nichts – man musste nehmen, was es gab.“ Später bekam er zu seiner Freude Aluminiumblech zum Verarbeiten, doch war dieses so weich, dass es sich nicht schneiden ließ. Noch heute liegt irgendwo in seiner Werkstatt ein Sack mit Aluminiumwinkeln. „Das kann man heute alles nicht mehr nachvollziehen!“

 

Horst Hartung hielt von Anfang an engen Kontakt zu den Leistungssportlern. Er selbst war ja auch ein erfolgreicher Slalomfahrer: mehrere Jahre fuhr er in der DDR-Nationalmannschaft F1. So nahm er am „Interzonalen Städtewettkampf im Kajak-Slalom“ 1949 in Jena, an einer Gesamt-Deutschen Meisterschaft in Baden-Baden und an der Gesamtdeutschen Meisterschaft 1953 in München teil.

 

Den 17. Juni 1953 erlebte Horst Hartung im Trainingslager an der Wildwasserstrecke in Kahla (Saale). Ihn „interessierte mehr das Drumherum“. Erst als er nach Hause zu seinem Betrieb wollte, wurde er von seinem Partner im C II, Herrn Vogt, politisch bearbeitet: „mit Herrn Vogt war nicht gut zu reden“. – 1956, mit 29 Jahren, beendete Horst Hartung seine Sportlerlaufbahn, ohne jedoch dem Paddeln ade zu sagen.

 

Als Modelltischler machte Horst Hartung keine Zeichnungen, sondern Aufrisse auf Sperrholz. Viele Modelle entstanden so, auch individuell. 1961 z. B. fanden auf der Roten Weißeritz im Rabenauer Grund bei Dresden die Wildwasser- und Kanuslalom-Weltmeisterschaften statt, und Horst Hartung baute den DDR-Startern die Boote dafür. Die Aufgabe war anspruchsvoll, weil die Boote unter 10 kg wiegen sollten, was Hartung durch ein Gestell aus Aluminium und eine extra dünne Haut erreichte. Dazu baute er die Boote nicht nach der Stange, sondern schneiderte sie den Fahrern „auf den Leib“! Sprich: auf den Hintern. Es muss eine Gaudi gewesen sein, als die jungen Frauen sich auf der Zuschneideplatte seiner Werkstatt mit der Hose auf die Folie setzen mussten, die über den Gipseimer gedeckt war. „Der Fez mit den Leuten!… Und dann reichte der Gips nicht, man musste nachholen!“ Nach ihren Körpermaßen baute Horst Hartung die Boote, in denen Anneliese Bauer den ersten Platz im Wildwasserrennen und die Silbermedaille im Kanuslalom und Eva Setzkorn den dritten Platz im Wildwasserrennen errangen. Das Boot Eva Setzkorns, von Horst Hartung wegen der Bootsmaße „Jungfer“ genannt, liegt heute in der Sammlung Bernd Rabes in Werdau (Bernd Rabe hat auch weitere Informationen zu Leben und Werk Horst Hartungs).

 

Die Kanuslalom-Weltmeisterschaften 1963 auf der Drau in Spittal (Österreich) waren die letzten, auf denen noch (Hartung)Faltboote starteten. Ab diesem Jahr stellte Horst Hartung – als einer der ersten überhaupt – seine Produktion auf GFK-Boote um, die bis 1991 gebaut wurden („Glasfaserverstärktes Polyester / GFK“ ist der bundesdeutsche Begriff für dieses Material; in der DDR und ihren Veröffentlichungen hieß es „Glasfaserverstärktes ungesättigtes Polyester / GUP“). Bis 1989 fuhren die Wildwassermannschaften der DDR mit Hartung-Booten. Einzige Ausnahme war Siegbert Horn, der bei den Olympischen Spielen 1972 in einem Prijon-Boot antrat und darin die Goldmedaille im Kanuslalom errang.

 

Als privater Handwerksbetrieb war die Zahl der Boote, die Horst Hartung herstellen durfte, reglementiert: man durfte nicht mehr als sechs Boote pro Jahr und insgesamt nur 50 Stück pro Serie bauen. Horst Hartung gibt die Zahl der produzierten SL 58 mit 200 Stück an. Sie kosteten 485 DDR-Mark (für die damalige Zeit eine hohe Summe; mehr dazu unten). Nach dem Slalomeiner SL58 war der Absatz nicht mehr gewährleistet, da die Gruppe der Slalomfahrer überschaubar blieb (und dies das letzte Hartung-Faltboot werden sollte). Hartung lieferte deshalb viele Boote in die Sowjetunion, mindestens dreimal, wohl insgesamt 150 Boote. Trotz der geringen Produktionsziffern erhielt der Betrieb mehrere Auszeichnungen für seine Produkte; so erhielten seine Boote auf der Leipziger Messe 1973 eine Goldmedaille. „Hartungs“ waren Exportartikel bis nach Kanada!

 

Horst Hartung und Jochen Förster, zwei gute Freunde, sie haben die Firma bis Anfang der 90iger Jahre geleitet.

 

Zugleich reparierte der Betrieb zu DDR-Zeiten neben Hartung-Booten auch Häute für die Firma Pouch: HSF vernähte Oberdecks neu, deren Baumwollfaden durch falsche Lagerung im Winter weggefault war. Für manche Reparaturen mussten ganze Häute neu gefertigt werden. „Es gab viel Ärger mit Pouch“. Als Beispiel sei genannt, dass Pouch bei seinen Hautlieferungen immer „durch 5,5 teilbar“ angab, aber die Beschichtungswerte nur weniger als 1,20 m brachten. Horst Hartung brauchte lange, um den Grund zu ermitteln: der Stoff, den das Beschichtungswerk geliefert bekam, war nicht breit genug, so dass er zunächst auf die nötige Länge gespannt wurde. Statt ihn danach ein, zwei Tage liegen zu lassen, wurde er gleich nach dem Spannen beschichtet. In der Zeit danach (also in Horst Hartungs Werkstatt) schrumpfte der neue, zur Bootshaut gemachte Stoff wieder zusammen. Als Abhilfe spannte Horst Hartung den Stoff mittels einer stabilen Leiter selbst, oder er schnitt den Steven entsprechend zu.

 

Weitere Kontakte zu Faltbootbauern hatte Horst Hartung kaum, weil diese Wanderboote bauten, während er solche für den Leistungssport herstellte. Mit dem Leipziger Faltbootbauer Thiele, der, im Krieg ausgebombt, später „nie wieder richtig auf die Beine kam“, gab es keine Zusammenarbeit. Auch mit der Sonneberger Firma Pax nicht. Nach Horst Hartung beruhen Pax-Boote auf LFB-Modellen, die in der Zeit des Nachkriegsmangels 1951-55 im Sonneberger Spielzeugwerk nachgebaut wurden. Die Firma, handwerklich erfahren, „baute so viele Boote, dass mit einem mal der ganze Bedarf gedeckt war“. Damit kam schnell das Ende von „Pax“.

 

Horst Hartung baute auch Eskimokajaks, aber nicht viele, nach seiner Meinung zwei oder drei Boote (Steffen Kiesner-Barth gab 2012 in einer Diskussion des Faltbootforums die Zahl von 10-12 produzierten Hartung-Eskis an). Horst Hartung selbst gab 2009 nach einem weiteren Beitrag im Faltbootforum an, die Boote nur im näheren Umfeld von Halle/Leipzig verkauft zu haben; ob jemand noch einen Hartung-Eski hat, weiß er nicht. Mit einem solchen Eski fuhr Horst Hartung auch die Bode (vor der Sperrung einer der schwierigsten Flüsse der DDR), wobei er im (nicht einsehbaren) Bodekessel kenterte. „In einem bestimmten Alter hat man eine Macke im Kopf.“

 

Auch wenn ein Bild der „Faltbootdatenbank“ etwas anderes behauptet, besteht Horst Hartung darauf, seine Teile nie gestempelt zu haben; seine Boote hatten ein Siebdruck-Logo auf dem Verdeck. Die von KTW und Pouch verwendeten Siebdruckschablonen kennt Horst Hartung nicht. Seine eigene Schablone lag nach Einstellung der Produktion noch viele Jahre in der Werkstatt herum. (Reliquiensammler, müht euch nicht: das ist lange her.)

 

Horst Hartung im Oktober 2014

 

Im Gegensatz zu heute, wo viele Teile von außen zugeliefert werden, gab es bei HSF keine Fremdfertigung, alle Bootsteile entstanden in der Firma. So prägte und stanzte Horst Hartung auch die benötigten Metallteile (Zungen, Drehbeschläge usw.) selbst. Als Handwerker baute er „alles durcheinander“, was gerade gebraucht wurde. Horst Hartung fertigte nach Kundenwunsch, je nachdem, wer kam und was er verlangte. Die einzelnen Boote nennt er noch heute „Versuche“: es kam zu kleinen Veränderungen von Boot zu Boot, mal so, mal so. „Ich hätte doch nicht die Faltboote gemacht, wenn ich nicht die Möglichkeit gehabt hätte, hin und her zu denken!“ (Die Seriennummern der Bootstypen sind übrigens keine Längen- und Breitenangaben, sondern meinen den Jahrgang, in dem das Boot gebaut wurde.) Da Horst Hartung seine Boote erkennt (echte „Hartungs“ haben z. B. kaum Metallbeschläge am Gerüst), wies er schon einige Exemplare zurück: „Das habe ich nicht gebaut.“ Bei unserem Besuch wurde ihm z. B. vom stolzen Eigentümer ein „Hartung“ vorgelegt, dessen Gerüst, vollständig aus Aluminium gefertigt, in einer Hartung-Haut steckte. Kommentar Horst Hartungs: „Ein hervorragender Nachbau!“

 

„Ein hervorragender Nachbau“…

 

Seit der Gründung des in Berlin ansässigen „Instituts für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten“ (FES) 1962 arbeitete Horst Hartung mit dem Institut zusammen. Dort vorbereitete Entwicklungen wurden im Betrieb von Horst Hartung umgesetzt und zur Produktionsreife gebracht. „Er betonte immer wieder, dass die Staatsführung der DDR, der er selbst (als Kapitalist im sozialistischen Staat) nicht gerade freundlich gesonnen war (und umgekehrt natürlich), immer sehr viel für den Sport übrig hatte und somit im Sport vieles an Entwicklung möglich wurde.“ (Zitat: Horst-Hartung-Biographie des Böllberger Sportvereins Halle/Saale).

Die manchmal geäußerte Kritik an HSF-Booten bezog sich neben den Fahreigenschaften auf den komplizierten Auf- und Abbau. „Wenn man das als Sportler fährt, muss man ein dickes Fell haben“, sagt Horst Hartung selbst. Hartung-Boote sind nicht als Wandereiner, sondern als Sportgeräte entwickelt worden. Horst Hartung fuhr selbst in ihnen jahrelang Kleinflüsse in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, auch solche, die lange schon gesperrt sind, wie die Bode. Mit seinen Booten fuhr er bis WW III („Hast ja weiter nichts im Frühjahr“).

Für die Transportfrage fanden die Vereine eine Lösung. Zu Wettbewerben wurden Boote und Mannschaften mit dem Zug zum Wettbewerbsort gefahren. Da es in Halle einen Postsportverein gab, waren Beziehungen zur Reichsbahn gegeben – und die Boote fuhren im Postwagen mit; bis zu 20 Mann reisten so zum Wettbewerbsort an. Erst als später die Bootsanhänger fürs Auto aufkamen, gingen die Vereine zu dieser Möglichkeit des Transports über.

 

Jochen Förster (rechts) schenkt dem Verein seinen Horst Hartung Slalom 58

Paddeln im Kaukasus

 

 

Horst Hartung gehörte zu den Paddlergruppen, die Anfang der 60er Jahre die Wildwasserflüsse am Nordhang des Kaukasus erkunden durften (im Austausch dafür kamen Kiewer Studenten zum Paddeln auf die Saale). Zweimal fuhr er den im Nordkaukasus fließenden Terek und den auf der Südseite durch Georgien fließenden Rioni, das erste mal 1963 in einem neuen Einerfaltboot, das zweitemal im Jahr darauf zusammen mit seiner Frau im Zweier.

 

Dass die Gruppen überhaupt fahren durften, beruht neben der günstigen Konstellation der „Tauwetter“-Periode auf dem Austausch der Hochschule Kiew mit der DDR, wahrscheinlich von Otto Rauchheld angestoßen, der in Kiew studiert hatte. Ein Teilnehmer zahlte 300 Mark.

 

Die Paddler erhielten auf der ersten Tour einen „Aufpasser“ namens Kostja. Er legte die Regeln fest, nach denen verfahren werden sollte, und stieß damit mehrfach auf die Verwunderung der urlaubs-erfahrenen Deutschen. Zum Beispiel gab er die Parole aus, stets viel Salz zu essen. Also mussten in jeden Wassereimer, der überm Feuer kochte, zwei bis drei Esslöffel Salz geschüttet werden. War ein gemeinsamer Einkauf von Proviant für, sagen wir, drei Tage erledigt, so wurde das Essen nicht gleichmäßig auf die Boote verteilt: ein Boot hatte den ganzen Mannschaftsproviant für einen Tag zu laden, ein anderes den für den zweiten Tag und so fort.

 

Über beide Fahrten haben Walter Pretzsch 1965 und Heinz Schaefer 1967 im DDR-„Kanusport“ ausführlich berichtet. Spricht man mit Teilnehmern von damals, gewinnt man den Eindruck, dass die Expeditionen in ihrem Leben ein Markstein waren: keiner von ihnen war je vorher dort gewesen; dazu verliefen beide Fahrten jenseits touristisch erschlossener Gebiete. Die Russen in den Dörfern (die es, unabhängig von den sonst noch dort lebenden Völkern, in jedem Tal ein anderes, bis hinein nach Tiflis gab) waren ausgesprochen gastfreundlich. Horst Hartung war von der unberührten Natur begeistert, und zugleich erschüttert über das fehlende Umweltbewusstsein der Bewohner. Wie erledigt man einen russischen Ölwechsel? Man fährt auf eine Sandbank, legt sich unters Auto und schraubt. „Aber im Kolchos, mit 20, 30 Lastern!“ Auch die materielle Lage war erschütternd. Vorausahnend hatten die Paddler Ersatzteile wie Blech, Beschläge und Nieten mitgenommen, aber, um Gewicht zu sparen, weder Hammer noch Kneifzange, weil sie das Vorhandensein von Werkzeugen einfach voraussetzten. Wer beschreibt das Erstaunen, als sie, bei einem russischen Austauschstudenten zu Gast, nirgendwo Werkzeug auftreiben konnten! Wie bekommt man nun ohne Zange einen Alu-Niet ab? (Die Lösung wird nicht verraten…) Die herrschende Armut (die in den „Kanusport“-Berichten nur notdürftig kaschiert wird) war so gar nicht mit dem in der DDR vermittelten Bild der Sowjetunion in Einklang zu bringen: noch vier Jahrzehnte später sieht Horst Hartung einen Kriegsversehrten ohne Beine vor sich, der auf einem Brett mit drei Kugellagern auf der Straße rollerte.

 

Auch die Aversionen zwischen den einzelnen Völkern erfuhren die Deutschen. Wenn sie auf dem Markt einkaufen gingen, verkauften ihnen die tschetschenischen Händler, an die Kugeln klopfend, die guten Melonen. Kostja, ihr russischer Begleiter, bekam dagegen schlechte angedreht. In Mineralnyje Wody wurde die Gruppe in einem Schnellrestaurant angesprochen: „Du Nemetzki? Gutt! Stalin Schaiße!!“ – „Mir wurde himmelangst!“ sagt Horst Hartung noch heute…

 

Damit seine Frau im Kaukasus nicht auch einen Einer fahren musste, baute Horst Hartung für die zweite Expedition 1964 den „Hartung-Zweier„. Es sollte seine einzige Fahrt in einem Zweier werden. Das „Erstexemplar“ verschenkten die beiden noch im Kaukasus – es war zu schwer und zu sperrig für die Rückfahrt. Vom Hartung-Zweier sind nur etwa 50 Stück produziert worden.

 

Hartung mit dem Gerüst eines Hartung Zweiers, einem in nur wenigen Exemplaren gebauten Boot.

 

Die zweite Kaukasusfahrt verlief anstrengender, weil die Teilnehmer nicht zusammenpassten. „Die Chemie stimmte nicht.“ Es wird berichtet, dass Rudi Landgraf nach Erreichen des Bahnhofs Halle/Saale wortlos und ohne Abschied aus der Gruppe verschwand – die Reibereien hatten an den Nerven aller gezerrt. Dennoch erinnern sich alte Teilnehmer noch heute detailliert an diese Fahrten: sie sollten einmalig bleiben. Trotz mehrfacher Versuche bekam später nie wieder eine DDR-Gruppe die Möglichkeit, im entlegenen Kaukasus zu paddeln.

 

VEB Spezialbootsbau

 

 

1972 wurde Horst Hartungs Bootsbaufirma HSF verstaatlicht. Das geschah in der Weise, dass am 6. Dezember 1971 ein Funktionär in Horst Hartungs Werkstatt trat und ihm verkündete, dass sein Betrieb am 1. Januar 1972 volkseigen werde. Offiziell „kaufte“ der Staat den Betrieb „auf“: aus „Halle/Saale Faltbootbau“ (HSF) wurde  der „VEB Spezialbootsbau“ (VEB SBB). Horst Hartung blieb noch bis 1978 Direktor, bis er den Chefposten an seinen Werkstattleiter Jochen Förster übergab. Horst Hartung sah sich als Handwerker, der die anschwellenden bürokratischen und ideologischen Hemmnisse gesundheitlich nicht mehr aushielt. Zum Beispiel waren sämtliche Produktionsmittel nicht frei zu kaufen, sondern mussten (im Interesse der Planbarkeit der Wirtschaft) beantragt werden. Da Werkzeuge immer knapp waren und Betriebe mit Produktion fürs Militär bevorzugt beliefert wurden, gingen insgesamt nur ca. 35 % solcher Anträge durch. Folgerichtig beantragte ein Antragsteller seine Dinge jährlich immer wieder, und auch viel mehr Waren, als er brauchte, in der Hoffnung, wenigstens die nötigsten Mittel bewilligt zu bekommen. Es kam vor, dass der Antragsteller die doppelte Menge der benötigten Mittel aufschrieb, kalkulierend, dass ohnehin nur die Hälfte geliefert werden würde – und “diese“ Lieferung kam dann in voller Stückzahl!

 

Horst Hartung beantragte also eines Tages Scheren zum Glasschneiden (für die Glasfasermatten der GFK-Boote). Als Antwort bekam er: „Ach Quatsch!“ Also stellte er den Antrag jährlich neu, schließlich mit Dringlichkeit. Als Begründung gab er an, dass er schließlich auch für Militärzwecke produziere. Und das war nicht gelogen, bildeten ja die dem Armeesportclub (ASK „Vorwärts“) unterstellten Kanu-Leistungssportabteilungen den Hauptabnehmer seiner Boote! „Wieviel Prozent der Produktion macht denn der Militärbereich bei Ihnen aus?“ wurde er gefragt. „37 Prozent!“ antwortete Horst Hartung wahrheitsgemäß. Nun wurde der Antrag genehmigt.

 

Nach 1978 bekam sein Nachfolger Jochen Förster plötzlich die gesammelten Kisten der Bestellungen der letzten fünf Jahre geliefert, in Form von vielen, vielen Scheren! Alle möglichen Arten von Scheren lagen in den Kisten: Zackenscheren, Teppichscheren – nur keine Glasscheren, die eigentlich gebraucht wurden. Da die Lieferung aber bezahlt werden musste, lief Jochen Förster die umliegenden Fabriken ab: „Wer von euch braucht Scheren?“ Noch heute hat er Scheren aus dieser Lieferung in der Werkstatt zu liegen.

 

Auf die Erträge der volkseigenen Firma musste Horst Hartung einen Steuersatz von 65 % entrichten. Der Rest des Gewinns floss auf ein (zinsloses) Sperrkonto, von dem ihm jährlich 3000 Mark zugeteilt wurden. Die Entwicklung neuer Boote wurde im Sozialismus nicht als Leistung anerkannt, „das galt als selbstverständlich“. Ein weiterer Grund, den Direktorenposten abzugeben. Im sozialistischen Wirtschaftssystem aber konnte Horst Hartung nicht einfach zurücktreten; seine Kündigung aus gesundheitlichen Gründen (er hatte Herzschmerzen) wurde von der Handwerkskammer nicht angenommen. Also trank er auf der nächsten Weihnachtsfeier demonstrativ weder Alkohol noch Kaffee, sondern nur Wasser, so dass allen anschaulich war: der Mann muss wirklich krank sein! Da klappte die Entlassung dann. Allerdings mit der Auflage, für die weitere Existenz als Handwerker keine Arbeiter aus seinem (nun volkseigenen) Betrieb „abzuziehen“.

 

Zwischen 1968 und dem Ende des Betriebes 1991 wurden bei HSF bzw. im VEB SBB ausschließlich GFK-Boote produziert. Der Staat gab nicht die Zahl der verkauften Boote, sondern den zu erzielenden Umsatz als Planvorgabe vor. HSF hatte, wie oben beschrieben, Faltboote für 485 DDR-Mark verkauft. Der Preis für GFK-Boote musste auf über 900 Mark aufgestockt werden, weil der Staat nun von jedem verkauften Boot 300 M „Produktgebundene Abgabe“ (PA), so etwas wie die bundesdeutsche Umsatzsteuer, verlangte. (Und weil es nach staatlicher Meinung nicht anging, zwei Boote zu verschiedenen Preisen zu verkaufen, gab es auch einen Aufschlag auf die letzten „Hartungs“.) Da die Boote in der DDR aber nur an Vereine verkauft wurden, die auch Leistungssport betrieben und eine entsprechend gute finanzielle Ausstattung hatten, herrschte beim Vertrieb eine „entspannte Lage“. Der Sportverein, in der Horst Hartung Mitglied war, der heutige Böllberger Sportverein Halle/Saale, stellte bei Wettkämpfen immer eine der besten Mannschaften, weil er die besten Boote hatte. Insgesamt haben Hartung-Boote 49 Weltmeistertitel sowie 3 Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen 1972 in München/Augsburg für die DDR errungen!

 

Nachdem er als Direktor seinen Abschied genommen hatte, baute Horst Hartung, nun 50jährig, als selbständiger Handwerker Polyesterboote und stieg dabei aufs Segeln um. Er entwickelte ein Segelboot mit GFK-Rumpf, das leicht genug war, um von einem „Wartburg“ gezogen werden zu können. Von diesen fertigte er ein bis zwei Stück pro Jahr, die im engsten Kreis (Segelclub) „unter der Hand“ verkauft wurden. Es ist ihm aber nicht bekannt, ob eins der Boote noch existiert. Außerdem reparierte Horst Hartung bis etwa 2010 für Sportgemeinschaften und Privatkunden Boote auf GFK-Basis.

 

Seit er Segelboote baute, hat Horst Hartung keine Beziehung zu Faltbooten mehr. So kommt es, dass Faltboote nur einen kleinen (wenn auch wichtigen) Teil von Horst Hartungs Schaffen ausmachen. Heute würde er kein eigenes Boot mehr bauen wollen: alle Risse und der Bau von Kanu-Rennsport-Booten erfolgen beim Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten in Berlin. „Boote sind heute nur Massenware“.

 

Horst Hartung am Ende: „Ich hatte ein glückliches Leben – ich habe immer machen können, was ich wollte.“

Text: Gernot Näser